Dienstag, 30. September 2008
1 Kor 13,12
Als ich ein Kind war, / redete ich wie ein Kind, / dachte wie ein Kind / und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, / legte ich ab, was Kind an mir war.
Jetzt schauen wir in einen Spiegel / und sehen nur rätselhafte Umrisse, / dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, / dann aber werde ich durch und durch erkennen, / so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.

Lied Vom Kindsein
– Peter Handke


Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte der Bach sei ein Fluß,
der Fluß sei ein Strom,
und diese Pfütze das Meer.

Als das Kind Kind war,
wußte es nicht, daß es Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.

Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit,
saß oft im Schneidersitz,
lief aus dem Stand,
hatte einen Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim fotografieren.

Als das Kind Kind war,
war es die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich ich und warum nicht du?
Warum bin ich hier und warum nicht dort?
Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?
Ist was ich sehe und höre und rieche
nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt?
Gibt es tatsächlich das Böse und Leute,
die wirklich die Bösen sind?
Wie kann es sein, daß ich, der ich bin,
bevor ich wurde, nicht war,
und daß einmal ich, der ich bin,
nicht mehr der ich bin, sein werde?

Als das Kind Kind war,
würgte es am Spinat, an den Erbsen, am Milchreis,
und am gedünsteten Blumenkohl.
und ißt jetzt das alles und nicht nur zur Not.

Als das Kind Kind war,
erwachte es einmal in einem fremden Bett
und jetzt immer wieder,
erschienen ihm viele Menschen schön
und jetzt nur noch im Glücksfall,
stellte es sich klar ein Paradies vor
und kann es jetzt höchstens ahnen,
konnte es sich Nichts nicht denken
und schaudert heute davor.

Als das Kind Kind war,
spielte es mit Begeisterung
und jetzt, so ganz bei der Sache wie damals, nur noch,
wenn diese Sache seine Arbeit ist.

Als das Kind Kind war,
genügten ihm als Nahrung Apfel, Brot,
und so ist es immer noch.

Als das Kind Kind war,
fielen ihm die Beeren wie nur Beeren in die Hand
und jetzt immer noch,
machten ihm die frischen Walnüsse eine rauhe Zunge
und jetzt immer noch,
hatte es auf jedem Berg
die Sehnsucht nach dem immer höheren Berg,
und in jeden Stadt
die Sehnsucht nach der noch größeren Stadt,
und das ist immer noch so,
griff im Wipfel eines Baums nach dem Kirschen in einemHochgefühl
wie auch heute noch,
eine Scheu vor jedem Fremden
und hat sie immer noch,
wartete es auf den ersten Schnee,
und wartet so immer noch.

Als das Kind Kind war,
warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum,
und sie zittert da heute noch.

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Rhizom
Rhizom (griech. ριζωμα [rhizoma] = Wurzel) ist ein zentraler Begriff der Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari.
Der Begriff ist der Bezeichnung für Wurzelgeflechte (Rhizome) von Pflanzen abgeleitet. Bei Deleuze und Guattari dient er als Metapher für ein postmodernes beziehungsweise poststrukturalistisches Modell der Wissensorganisation und Weltbeschreibung, das ältere, durch eine Baum-Metapher dargestellte, hierarchische, Strukturen ersetzt. Das philosophische Konzept der Rhizomatik stieß auf großes Interesse in der Wissenschaftstheorie, der Medienphilosophie und den Kulturwissenschaften.

Die Metapher des Rhizoms ist ein Gegenentwurf zur klassischen pflanzlichen Metapher des Baums des Wissens. Der Baum des Wissens ist einen traditionelles Organisationsmodell, das die Hierarchie des Wissens und der Wissenschaften beschreiben soll und dessen Tradition bis in die griechische Antike zurückreicht. Nach diesem Baummodell sind beispielsweise Taxonomien, Klassifikationen, klassische Enzyklopädien und Bibliotheken organisiert. Baum-Modelle sind hierarchisch und dichotomisch angelegt, das heißt: Jedes Element befindet sich auf einer (und nur einer) Ordnungsebene, ist einer höheren Ebene untergeordnet und kann einem oder mehreren Elementen übergeordnet sein. Es gibt keine Querverbindungen, die Hierarchieebenen überspringen oder Elemente verbinden, die zwei unterschiedlichen höheren Elementen übergeordnet sind. Eine solche Struktur lässt sich als „Baum“ darstellen, der mit einem „Stamm“ beginnt und sich dann weiter und weiter verzweigt. Es gibt jedoch zwischen den einzelnen Zweigen keine Querverbindungen.
Deleuze und Guattari halten das dichotomische Baummodell für epistemologisch unangemessen, weil es nicht offen ist für mögliche Veränderungen der Sichtweise wie etwa Verschiebungen der Forschungs- und Verstehensperspektive. Hierarchische Ordnungsstrukturen wie das Baummodell dürfen sich nicht kreuzen oder überschneiden. In einem Baummodell kann weder ein Element mehreren Ordnungsebenen angehören, noch sind Querverbindungen zu Elementen anderer Äste erlaubt. Genau dies aber erscheint in einer modernen Wissenswelt unumgänglich. Die Autoren halten das Baummodell auch für politisch gefährlich, da sie z.B. in Diktaturen die gleiche Baumstruktur in rigiden politischen Hierarchien umgesetzt sehen.
Als Alternative zum Baummodell ziehen Deleuze und Guattari rhizomatische Pflanzenstrukturen heran. Weitere Beispiele sind die Bauten von Ameisen und Ratten, die sie ebenfalls als „Rhizom“ beschreiben. Sie bleiben damit im Bereich der biologischen Metaphorik, finden aber eine Metapher, das ihrer Vorstellung von einer vielfach verflochtenen Struktur entspricht:
„Ein Rhizom ist als unterirdischer Strang grundsätzlich verschieden von großen und kleinen Wurzeln. Zwiebel- und Knollengewächse sind Rhizome. Pflanzen mit großen und kleinen Wurzeln können in ganz anderer Hinsicht rhizomorph sein, und man könnte sich fragen, ob das Spezifische der Botanik nicht gerade das Rhizomorphe ist. Sogar Tiere sind es, wenn sie eine Meute bilden, wie etwa Ratten. Auch der Bau der Tiere ist in all seinen Funktionen rhizomorph, als Wohnung, Vorratslager, Bewegungsraum, Versteck und Ausgangspunkt. Das Rhizom selber kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen.“[1]
Ein Rhizom ist also ein „vielwurzelig“ verflochtenes System, das nicht in Dichotomien aufgeht: „Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden, es wuchert entlang seiner eigenen oder anderen Linien weiter.“[2]
In der Rezeption durch den Poststrukturalismus wurde vor allem Deleuzes und Guattaris Kritik der Logik der Identität aufgegriffen:
„Der Poststrukturalismus denkt sowohl in differenten Vielheiten wie in Zusammenhängen. Das dabei entstehende Bild von Einheit und Vielheit ordnet die Vielheit der Einheit nicht identitätslogisch unter bzw. sie verfällt nicht in bloß nominalistische Opposition, die nichts am Baumschema … ändert. Vielmehr verweben sich Einheit und Vielheit ineinander und weder existiert das eine vor oder über dem anderen noch hebt das eine das andere auf. Keines gibt es ohne das andere.“ [3]
Ordnung im Rhizom [Bearbeiten]

Einzelne Punkte in Rhizomen können und sollen untereinander verbunden werden („Konnexion“). Unterschiedlichste Sachverhalte können miteinander in Verbindung treten („Heterogenität“). Feste Strukturen und Ordnungssysteme sind in einer „rhizomatischen“ Wissenswelt möglich, aber nicht ausschließlich.
„Jedes Rhizom enthält Segmentierungslinien, nach denen es geschichtet ist, territorialisiert, organisiert, bezeichnet, zugeordnet etc.; aber auch Deterritorialisierungslinien, an denen es unaufhaltsam flieht.“[4]
Statt „Einheiten“ werden bevorzugt „Vielheiten“ beobachtet, von den Autoren „Plateaus“ genannt:
„Jede Vielheit, die mit anderen durch an der Oberfläche verlaufende unterirdische Stängel verbunden werden kann, so dass sich ein Rhizom bildet und ausbreitet, nennen wir Plateau.“;[5]
Plateaus können zwar miteinander verbunden sein, doch sind sie nicht so organisiert, dass wie im Baummodell ein Element zum „Stamm“ erklärt wird, von dem alle anderen abhängen. Je nach Betrachtungsperspektive kann das Zentrum eines Rhizoms überall und nirgends sein. Als Rhizom begriffen, wird der Wert scheinbar chaotischer Verknüpfungen verständlich:
„Der Baum und die Wurzel zeichnen ein trauriges Bild des Denkens, das unaufhörlich, ausgehend von einer höheren Einheit (...) das Viele imitiert. (...) Hydren und Medusen können wir nicht entkommen.“ [6]
Rhizom bedeutet die Befreiung von definierten Machtstrukturen: Viele Perspektiven und viele Ansätze können frei verkettet werden.
Rezeption [Bearbeiten]

Vor allem in der Philosophie der Postmoderne und der Medientheorie wird die „Rhizomatik“ diskutiert, weil der Begriff für viele Probleme der Orientierung innerhalb moderner Welten des Wissens einen Ansatzpunkt zu bieten scheint. Moderne Wissenswelten – dazu gehört auch die Wikipedia – nach dem klassischen Baummodell zu ordnen und zu kategorisieren ist ein unmögliches Unterfangen. Zwar können bestimmte Ordnungsstrukturen geschaffen werden, diese werden jedoch von internen Verknüpfungen und Verbindungslinien wieder untergraben.
Aus der Perspektive jeder Wissenschaft, jeder neuen Herangehensweise, jedes Fachgebiets baut sich das System und die Ordnung des bestehenden Wissens von neuem, in neuer Weise wieder auf. „In einem Rhizom gibt es keine Punkte oder Positionen wie etwa in einer Struktur, einem Baum oder einer Wurzel. Es gibt nichts als Linien.“[7] Vielen modernen Medientheoretiker scheint die Metapher des Rhizoms daher geeignet, um Strukturen von Hypertexten, sozialen Netzwerken oder Computernetzen wie dem Internet zu beschreiben.

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Hamletmaschine von Müller
Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. Die Glocken läuteten das Staatsbegräbnis ein, Mörder und Witwe ein Paar, im Stechschritt hinter dem Sarg des Hohen Kadavers die Räte, heulend in schlecht bezahlter Trauer WER IST DIE LEICH IM LEICHENWAGEN / UM WEN HÖRT MAN VIEL SCHREIN UND KLAGEN / DIE LEICH IST EINES GROSSEN / GEBERS VON ALMOSEN das Spalier der Bevölkerung, Werk seiner Staatskunst ER WAR EIN MANN NAHM ALLES NUR VON ALLEN. Ich stoppte den Leichenzug, stemmte den Sarg mit dem Schwert auf, dabei brach die Klinge, mit dem stumpfen Rest gelang es, und verteilte den toten Erzeuger FLEISCH UND FLEISCH GESELLT SICH GERN an die umstehenden Elendsgestalten. Die Trauer ging in Jubel über, der Jubel in Schmatzen, auf dem leeren Sarg besprang der Mörder die Witwe SOLL ICH DIR HINAUFHELFEN ONKEL MACH DIE BEINE AUF MAMA. Ich legte mich auf den Boden und hörte die Welt ihre Runden drehn im Gleichschritt der Verwesung.

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king lear

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Oliver Sacks
Oliver Sacks berühmtestes Buch Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte versammelt 24 Geschichten von Menschen mit seltsamen, sich auf die Persönlichkeit auswirkenden neurologischen Störungen. Die emphatisch beschriebenen Fallstudien vermitteln dem Leser, dass es noch eine andere Normalität als die allgemein gültige geben kann.
Inhalt: In der titelgebenden Geschichte ist ein erfolgreicher Musikwissenschaftler und Sänger an visueller Agnosie erkrankt, der sog. Seelenblindheit. Aufgrund einer winzigen Verletzung in der rechten Gehirnhälfte kann Dr. P. die Gegenstände nicht mehr erkennen und greift statt nach seinem Hut zum Gesicht seiner Frau. Während im ersten Teil des Buchs Menschen vorgestellt werden, die wie Dr. P. an einem spezifischen Verlust leiden, stehen im zweiten Teil Patienten im Mittelpunkt, bei denen sog. neurologische Überschüsse vorliegen. So erfährt beispielsweise Natasha K. im Alter von 89 Jahren einen Überschwang an Gefühlen, der von Sacks als Neurosyphilis diagnostiziert und den Wünschen der beschwingten Dame entsprechend nur gemäßigt, nicht aber vollständig geheilt wird. In einem dritten Teil schildert Sacks seine Begegnungen mit Menschen, die visionäre Fähigkeiten aufweisen oder deren Wahrnehmungen sich plötzlich verändert haben, wie z. B. bei Stephen D., der eines Morgens mit dem Geruchssinn eines Hundes erwacht. Der letzte Teil versammelt Geschichten von Menschen mit geistigen Behinderungen und besonderen Fähigkeiten; Sacks berichtet u. a. von seiner Behandlung geistig und körperlich retardierter Zwillinge, die durch ihr phänomenales Zahlengedächtnis das Interesse von Wissenschaft und Medien auf sich gezogen hatten.
Neben der Schilderung kurioser Krankheiten hebt Sacks die außerordentlichen Fähigkeiten hervor, welche die Patienten unbewusst entwickelt haben, um ihre neurologischen Defekte zu kompensieren. Im Vorwort zu seinem Buch schreibt er: »Klassische Sagen und Legenden sind von archetypischen Figuren, von Helden, Opfern, Märtyrern und Kriegern bevölkert. Die Patienten eines Neurologen sind Verkörperungen dieser Figuren.« In Nachschriften zu den einzelnen Geschichten gibt Sacks medizinische Erklärungen, sodass das Werk gleichermaßen als Kompendium skurriler, authentischer Geschichten wie auch als populärpsychologisches Sachbuch gelesen werden kann.
Wirkung: Das vom Rowohlt-Verlag als Sachbuch vertriebene Werk mit dem kuriosen Titel wurde zum Bestseller und fand insbesondere in der darstellenden Kunst große Resonanz. So diente die Titelgeschichte als Vorlage für eine 1986 von dem Komponisten Michael Nyman uraufgeführte Kammeroper; 1993 suchte der Regisseur Peter Brook in seinem Stück L‘homme qui nach einer Schauspielsprache für die Darstellung neurologischer Defekte.

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