Mittwoch, 27. Februar 2008
Literaturwissenschaft Uni-Kiel
kay voges, 16:35h
Alice im Wunderland ist eine kulturelle Ikone. Auf der einen Seite gilt das Buch als Klassiker der Kinderliteratur, auf der anderen Seite wird es assoziiert mit Naturwissenschaften, besonders Mathematik, Astronomie, Physik und Informatik, mit
Erotik und der so genannten high literature, der
Kanonliteratur. Denn nicht nur im Rahmen von Kinderbüchern wurden Lewis Carrolls (1832-1898) Erzählungen kopiert, sondern auch Christina Georgina Rossetti (1830-1884) und vor allem
Modernisten wie T. S. Eliot (1888-1965), Virginia Woolf (1882- 1941) und James Joyce (1882-1941) beziehen sich auf die Alice- Bücher. Andere Schriftsteller und Kritiker, die Carrolls Texte
ernst nahmen, waren Sir William Empson (1906-1984), Robert Graves (1895-1985) und Evelyn Waugh (1903-1966), in neuester Zeit Julien Barnes, Stephen King und die postmodernen Kritiker Gilles Deleuze und Jean-Jacques Lecercle. Die auf den ersten
Blick widersprüchlichen Perspektiven liegen zum einen in der Person Carrolls begründet, zum anderen im Text selber.
Charles Lutwidge Dodgson wurde 1832 in Coshire geboren. 1846 erfand er sein Pseudonym Lewis Carroll. Neben dem Verfassen von Nonsens-Satiren für kleine Zeitschriften widmete er sich
vor allem dem neuen Medium der Avantgarde: der Fotografie. Für die Carroll-Forschung besonders interessant ist die Tatsache, dass Carroll vornehmlich Mädchen bis 10, maximal 12 Jahre
fotografierte, bekleidet, aber auch nackt, wenn er die Erlaubnis der Eltern eingeholt hatte, die er häufig nicht bekam. Diese Obsession bildete das wichtigste Interessengebiet insbesondere der psychoanalytisch ausgerichteten Klassiker der Kinderliteratur
amerikanischen Forschung bis in die 1940er Jahre, die sich fragte, ob Alice im Wunderland letztendlich durch eine pervertierte Erotik zu Stande gekommen sei. Carrolls Lieblingsmodell war das Mädchen Alice Liddell, die zum Vorbild der Protagonistin der Geschichte wurde. Carroll setzte den Mythos in die Welt, er habe die gesamte Erzählung von Alice im Wunderland am so genannten Golden Afternoon des 4. Juli 1862 erfunden, um Alice Liddell, zwei
ihrer Schwestern und den Geistlichen Duckworth bei einer Ruderpartie auf der Themse bei Oxford zu unterhalten. Allerdings widersprechen Carrolls Tagebucheintragungen dem Schöpfungsmythos; außerdem sprechen sowohl die Einteilung des
Textes in klar getrennte Episoden als auch die Komplexität der intrikaten Denkspiele für eine allmähliche Genese im Prozess der Veröffentlichung. Carroll schenkte sowohl Alice Liddell als auch Christina Rossetti 1864 eine Manuskriptversion unter
dem Titel Alice’s Adventures Underground (dt.: Alices Abenteuer unter der Erde), die 1886 als Faksimile herausgebracht wurde. Die erste Druckausgabe mit dem Titel Alice’s Adventures in Wonderland (dt.: Alices Abenteuer im
Wunderland; 1865) enthielt die berühmt gewordenen
Illustrationen von Sir John Tenniel. 1871 folgte dann die Fortsetzung Through the Looking Glass and What Alice Found There (dt.: Durch den Spiegel). 1886 entstand noch mit Einverständnis des Autors eine Bühnenfassung der Geschichte, die seitdem unzählige Male aufgeführt wurde. Außerdem
existieren eine Verfilmung von Walt Disney sowie eine Rundfunkbearbeitung des NBC.
Im Schlaf gerät die Protagonistin Alice ins Wunderland, eine Welt nahe dem Mittelpunkt der Erde, durch die sie ein sprechendes weißes Kaninchen führt. Sie begegnet weiteren
skurrilen Geschöpfen, die in einer eigenen Logik leben, die Alices Ordnungssysteme aus der Menschenwelt zusammenbrechen lässt. Größenverhältnisse, der Zeitbegriff und die Zeit
selbst, schließlich sogar die ganze Realität werden
manipulierbar durch neue Sprach- und Denkmuster und Spiele, die sich durch Regelhaftigkeit definieren. Sie demonstrieren nur noch die Ungültigkeit der arbiträren Regeln. Eine Annäherung oder ein Lernprozess ist weder bei Alice noch bei
den merkwürdigen Wesen festzustellen. Die Welten bleiben unvereinbar. Alice versucht sich mit dem in der Schule angeeigneten Erwachsenenwissen gegen den Nonsens der Fabeltiere zur Wehr zu setzen, was dem Leser einen Einblick in die Schulbildung des 19. Jahrhunderts erlaubt. Bis zum Ende des Traumes allerdings sind Alices Versuche erfolglos, denn die Fabeltiere wenden ihrerseits die Erwachsenenstrategie des Befehlens und Bestrafens an, um ihre verquere Welt durchzusetzen. Schließlich ist Alice so verwirrt, dass sie die Schulweisheiten nur noch als Parodie des Originals wiederzugeben vermag, wenn die Fabelwesen sie in strengem Ton
zum Aufsagen von Gedichten auffordern. Diese Parodien machen die berühmten Nonsens-Dichtungen des Buches aus. Gerade als Klassiker der Kinderliteratur das Chaos unüberwindbar zu werden scheint, befreit sich Alice, indem sie auf der Wirklichkeit ihrer Realität besteht und
erwacht. Sie erzählt ihrer Schwester von der Wunderwelt und diese spinnt den Traum dann ihrerseits weiter. Das Buch lebt nicht von der Handlung, sondern ausschließlich von den
Dialogen und den Denkexperimenten, die vorgeführt werden. In der deutschsprachigen Forschung gibt es kaum Untersuchungen zu Alice im Wunderland als Kinderliteratur, da allgemein in Deutschland Kinderbücher eine viel geringere Rolle spielen als
in England, wie die vielen literarischen Adaptionen in der englischen Literatur zeigen. Die englischsprachige Forschung sieht Kinderliteratur charakterisiert durch eine asymmetrische
Kommunikationssituation (Die Bücher werden von Kindern gelesen, aber in aller Regel von Erwachsenen geschrieben.), eine Zwitterstellung zwischen dem literarischen und dem
pädagogischen System einer Kultur und das Thema der Identitätssuche. Thematisch verortet der Text sich in der Kinderliteratur, da Alices Begegnungen mit den eigenwilligen Figuren die Unterlegenheitsgefühle und Entgrenzungsbedürfnisse, die Selbsterprobung und Rollenübernahme des heranwachsenden Kindes inszenieren, das
sich in der Auseinandersetzung mit einer unzugänglichen Erwachsenenwelt bewähren muss. Dieser Selbstbehauptungskampf von Alice wird in neuerer Zeit besonders aus der Perspektive
der Gender Studies bearbeitet, die in ihm eine Ablehnung der viktorianischen Weiblichkeitsstereotype sowie der Autoritätsstrategien der Erwachsenen zu erkennen glauben.
Andere Kritiker deuten Alice nicht nur als Beispiel für den psychischen Reifungsprozess eines Kindes, das sich in einer fremden Welt zurechtfinden muss, sondern als Repräsentantin des modernen Menschen, der sich in einer Welt bewegt, deren Ordnungsprinzipien er nicht mehr durchschaut und in der er dennoch seine eigene Identität finden und behaupten muss.
Die Untersuchung der vielen Sprach- und Denkspiele in Alice im Wunderland bildet schließlich den größten Teil der Forschungen zu diesem Buch, das insbesondere für die Linguistik und die
Semiotik eine schier unerschöpfliche Fundgrube für die Arbitrarität und Potenzialität von Zeichensystemen im Allgemeinen und Sprache im Besonderen bietet. Eine Reihe von Sprachspielen leitet sich ab aus der Polyvalenz, also aus der
Vieldeutigkeit von Worten. Andere wiederum geben den Worten eine neue Etymologie und Semantik. Immer wieder wird auch die kulturelle Kontextgebundenheit von Sprache herausgestellt. Die
sprachlichen Mittel zeigen, dass die Verrücktheit in der Wunderwelt keine psychische, sondern eine intellektuelle Verrücktheit darstellt, d.h. sie ist nicht unlogisch, sondern gehorcht einer anderen Logik als der von Alice vertretenen. Diese intellektuelle Verrücktheit stellt das Konzept von
Normalität in Frage und die gewalttätigen Reaktionen der Fabelwesen auf Alices Erwachsenenlogik und Sprachgebrauch zeigen, wie wichtig der Glaube an die Transparenz und Klassiker der Kinderliteratur
Stabilität der Bedeutungen für das Sicherheitsbedürfnis und die Identität einer Sprachgemeinschaft ist.
Während die Geschöpfe der Unterwelt sich gegen jede Störung ihres Weltbildes durch eine andere Logik wehren, sehen verschiedene Kritiker in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts Analogien zwischen Alice im Wunderland und dem
Buch Confessions of an English Opium-Eater (1821) von Thomas De Quincey. Dort wird der Drogenkonsum als eine Möglichkeit
gesehen, die herrschende Ideologie einer Zeit zu durchschauen und zu unterminieren. Angesichts des intellektuell recht weit verbreiteten Konsums von Opium und Laudanum im 19. Jahrhundert
verwundert es nicht, dass zu Carrolls Bekanntenkreis
Opiumraucher zählen. Ohne Carroll persönlich Drogenkonsum zu unterstellen, wird seinen invertierten Denkwelten eine ähnlich
bewusstseinsverändernde Wirkung zugetraut wie entsprechenden Drogen. Die Vorstellung von Alice in Acidland, so der Titel eines Aufsatzes von Thomas Frensch aus dem Jahre 1968, errang
durch den Song „White Rabbit“, geschrieben von Grace Slick für die Band Jefferson Airplane, Kultstatus in der Acidrock-Szene der 60er und 70er Jahre. In Alice im Wunderland wird die
beunruhigende, weil undurchschaubare Welt des Wunderlandes allerdings durch zwei Aspekte wieder an die Normalitätskonzepte unserer Welt zurückgebunden und die Identität von Alice bestätigt. Das ist zum einen das Ende der Erzählung, denn indem Alice im Schoß ihrer Schwester aufwacht,
zieht der Text eine ganz klare Differenzlinie zwischen der als Realität erkannten Welt unserer Denkmuster und der Traumwelt.
Erotik und der so genannten high literature, der
Kanonliteratur. Denn nicht nur im Rahmen von Kinderbüchern wurden Lewis Carrolls (1832-1898) Erzählungen kopiert, sondern auch Christina Georgina Rossetti (1830-1884) und vor allem
Modernisten wie T. S. Eliot (1888-1965), Virginia Woolf (1882- 1941) und James Joyce (1882-1941) beziehen sich auf die Alice- Bücher. Andere Schriftsteller und Kritiker, die Carrolls Texte
ernst nahmen, waren Sir William Empson (1906-1984), Robert Graves (1895-1985) und Evelyn Waugh (1903-1966), in neuester Zeit Julien Barnes, Stephen King und die postmodernen Kritiker Gilles Deleuze und Jean-Jacques Lecercle. Die auf den ersten
Blick widersprüchlichen Perspektiven liegen zum einen in der Person Carrolls begründet, zum anderen im Text selber.
Charles Lutwidge Dodgson wurde 1832 in Coshire geboren. 1846 erfand er sein Pseudonym Lewis Carroll. Neben dem Verfassen von Nonsens-Satiren für kleine Zeitschriften widmete er sich
vor allem dem neuen Medium der Avantgarde: der Fotografie. Für die Carroll-Forschung besonders interessant ist die Tatsache, dass Carroll vornehmlich Mädchen bis 10, maximal 12 Jahre
fotografierte, bekleidet, aber auch nackt, wenn er die Erlaubnis der Eltern eingeholt hatte, die er häufig nicht bekam. Diese Obsession bildete das wichtigste Interessengebiet insbesondere der psychoanalytisch ausgerichteten Klassiker der Kinderliteratur
amerikanischen Forschung bis in die 1940er Jahre, die sich fragte, ob Alice im Wunderland letztendlich durch eine pervertierte Erotik zu Stande gekommen sei. Carrolls Lieblingsmodell war das Mädchen Alice Liddell, die zum Vorbild der Protagonistin der Geschichte wurde. Carroll setzte den Mythos in die Welt, er habe die gesamte Erzählung von Alice im Wunderland am so genannten Golden Afternoon des 4. Juli 1862 erfunden, um Alice Liddell, zwei
ihrer Schwestern und den Geistlichen Duckworth bei einer Ruderpartie auf der Themse bei Oxford zu unterhalten. Allerdings widersprechen Carrolls Tagebucheintragungen dem Schöpfungsmythos; außerdem sprechen sowohl die Einteilung des
Textes in klar getrennte Episoden als auch die Komplexität der intrikaten Denkspiele für eine allmähliche Genese im Prozess der Veröffentlichung. Carroll schenkte sowohl Alice Liddell als auch Christina Rossetti 1864 eine Manuskriptversion unter
dem Titel Alice’s Adventures Underground (dt.: Alices Abenteuer unter der Erde), die 1886 als Faksimile herausgebracht wurde. Die erste Druckausgabe mit dem Titel Alice’s Adventures in Wonderland (dt.: Alices Abenteuer im
Wunderland; 1865) enthielt die berühmt gewordenen
Illustrationen von Sir John Tenniel. 1871 folgte dann die Fortsetzung Through the Looking Glass and What Alice Found There (dt.: Durch den Spiegel). 1886 entstand noch mit Einverständnis des Autors eine Bühnenfassung der Geschichte, die seitdem unzählige Male aufgeführt wurde. Außerdem
existieren eine Verfilmung von Walt Disney sowie eine Rundfunkbearbeitung des NBC.
Im Schlaf gerät die Protagonistin Alice ins Wunderland, eine Welt nahe dem Mittelpunkt der Erde, durch die sie ein sprechendes weißes Kaninchen führt. Sie begegnet weiteren
skurrilen Geschöpfen, die in einer eigenen Logik leben, die Alices Ordnungssysteme aus der Menschenwelt zusammenbrechen lässt. Größenverhältnisse, der Zeitbegriff und die Zeit
selbst, schließlich sogar die ganze Realität werden
manipulierbar durch neue Sprach- und Denkmuster und Spiele, die sich durch Regelhaftigkeit definieren. Sie demonstrieren nur noch die Ungültigkeit der arbiträren Regeln. Eine Annäherung oder ein Lernprozess ist weder bei Alice noch bei
den merkwürdigen Wesen festzustellen. Die Welten bleiben unvereinbar. Alice versucht sich mit dem in der Schule angeeigneten Erwachsenenwissen gegen den Nonsens der Fabeltiere zur Wehr zu setzen, was dem Leser einen Einblick in die Schulbildung des 19. Jahrhunderts erlaubt. Bis zum Ende des Traumes allerdings sind Alices Versuche erfolglos, denn die Fabeltiere wenden ihrerseits die Erwachsenenstrategie des Befehlens und Bestrafens an, um ihre verquere Welt durchzusetzen. Schließlich ist Alice so verwirrt, dass sie die Schulweisheiten nur noch als Parodie des Originals wiederzugeben vermag, wenn die Fabelwesen sie in strengem Ton
zum Aufsagen von Gedichten auffordern. Diese Parodien machen die berühmten Nonsens-Dichtungen des Buches aus. Gerade als Klassiker der Kinderliteratur das Chaos unüberwindbar zu werden scheint, befreit sich Alice, indem sie auf der Wirklichkeit ihrer Realität besteht und
erwacht. Sie erzählt ihrer Schwester von der Wunderwelt und diese spinnt den Traum dann ihrerseits weiter. Das Buch lebt nicht von der Handlung, sondern ausschließlich von den
Dialogen und den Denkexperimenten, die vorgeführt werden. In der deutschsprachigen Forschung gibt es kaum Untersuchungen zu Alice im Wunderland als Kinderliteratur, da allgemein in Deutschland Kinderbücher eine viel geringere Rolle spielen als
in England, wie die vielen literarischen Adaptionen in der englischen Literatur zeigen. Die englischsprachige Forschung sieht Kinderliteratur charakterisiert durch eine asymmetrische
Kommunikationssituation (Die Bücher werden von Kindern gelesen, aber in aller Regel von Erwachsenen geschrieben.), eine Zwitterstellung zwischen dem literarischen und dem
pädagogischen System einer Kultur und das Thema der Identitätssuche. Thematisch verortet der Text sich in der Kinderliteratur, da Alices Begegnungen mit den eigenwilligen Figuren die Unterlegenheitsgefühle und Entgrenzungsbedürfnisse, die Selbsterprobung und Rollenübernahme des heranwachsenden Kindes inszenieren, das
sich in der Auseinandersetzung mit einer unzugänglichen Erwachsenenwelt bewähren muss. Dieser Selbstbehauptungskampf von Alice wird in neuerer Zeit besonders aus der Perspektive
der Gender Studies bearbeitet, die in ihm eine Ablehnung der viktorianischen Weiblichkeitsstereotype sowie der Autoritätsstrategien der Erwachsenen zu erkennen glauben.
Andere Kritiker deuten Alice nicht nur als Beispiel für den psychischen Reifungsprozess eines Kindes, das sich in einer fremden Welt zurechtfinden muss, sondern als Repräsentantin des modernen Menschen, der sich in einer Welt bewegt, deren Ordnungsprinzipien er nicht mehr durchschaut und in der er dennoch seine eigene Identität finden und behaupten muss.
Die Untersuchung der vielen Sprach- und Denkspiele in Alice im Wunderland bildet schließlich den größten Teil der Forschungen zu diesem Buch, das insbesondere für die Linguistik und die
Semiotik eine schier unerschöpfliche Fundgrube für die Arbitrarität und Potenzialität von Zeichensystemen im Allgemeinen und Sprache im Besonderen bietet. Eine Reihe von Sprachspielen leitet sich ab aus der Polyvalenz, also aus der
Vieldeutigkeit von Worten. Andere wiederum geben den Worten eine neue Etymologie und Semantik. Immer wieder wird auch die kulturelle Kontextgebundenheit von Sprache herausgestellt. Die
sprachlichen Mittel zeigen, dass die Verrücktheit in der Wunderwelt keine psychische, sondern eine intellektuelle Verrücktheit darstellt, d.h. sie ist nicht unlogisch, sondern gehorcht einer anderen Logik als der von Alice vertretenen. Diese intellektuelle Verrücktheit stellt das Konzept von
Normalität in Frage und die gewalttätigen Reaktionen der Fabelwesen auf Alices Erwachsenenlogik und Sprachgebrauch zeigen, wie wichtig der Glaube an die Transparenz und Klassiker der Kinderliteratur
Stabilität der Bedeutungen für das Sicherheitsbedürfnis und die Identität einer Sprachgemeinschaft ist.
Während die Geschöpfe der Unterwelt sich gegen jede Störung ihres Weltbildes durch eine andere Logik wehren, sehen verschiedene Kritiker in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts Analogien zwischen Alice im Wunderland und dem
Buch Confessions of an English Opium-Eater (1821) von Thomas De Quincey. Dort wird der Drogenkonsum als eine Möglichkeit
gesehen, die herrschende Ideologie einer Zeit zu durchschauen und zu unterminieren. Angesichts des intellektuell recht weit verbreiteten Konsums von Opium und Laudanum im 19. Jahrhundert
verwundert es nicht, dass zu Carrolls Bekanntenkreis
Opiumraucher zählen. Ohne Carroll persönlich Drogenkonsum zu unterstellen, wird seinen invertierten Denkwelten eine ähnlich
bewusstseinsverändernde Wirkung zugetraut wie entsprechenden Drogen. Die Vorstellung von Alice in Acidland, so der Titel eines Aufsatzes von Thomas Frensch aus dem Jahre 1968, errang
durch den Song „White Rabbit“, geschrieben von Grace Slick für die Band Jefferson Airplane, Kultstatus in der Acidrock-Szene der 60er und 70er Jahre. In Alice im Wunderland wird die
beunruhigende, weil undurchschaubare Welt des Wunderlandes allerdings durch zwei Aspekte wieder an die Normalitätskonzepte unserer Welt zurückgebunden und die Identität von Alice bestätigt. Das ist zum einen das Ende der Erzählung, denn indem Alice im Schoß ihrer Schwester aufwacht,
zieht der Text eine ganz klare Differenzlinie zwischen der als Realität erkannten Welt unserer Denkmuster und der Traumwelt.
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